Endgegner Angst

Wenn das Leben ein Spiel ist, dann ist Angst der Endgegner. Ein, durch neuronale Mechanismen kreierter eigener Schatten, der deine tiefsten Abgründe kennt und dich genau in ihnen erwischt. Aber dies hier soll kein weiterer Artikel in der Reihe von Texten über Angst sein, die dir sinngemäß alle das Gleiche erzählen. Du kennst das ja schon: Angst sei erst mal eine ganz natürliche und gesunde körperliche Funktion, und die unzähligen Ratgeber, die dir von Säbelzahntigern und Kampf oder Flucht berichten.

Ich will stattdessen versuchen, dir eine neue authentische Perspektive zu geben und nicht zu schöner darzustellen, was in Wirklichkeit die ganz persönliche Hölle für dich und unzählige Betroffene darstellen kann. (Im Jahre 2021 sind Angststörungen weltweit immer noch die häufigste psychische Erkrankung.) Angstreaktionen sind überwältigend und für den Einzelnen eine kaum zu ertragende Herausforderung. Wenn das Herz bis zum Hals schlägt, sich kalter Schweiß auf dem Körper ausbreitet und die Gedanken Achterbahn fahren über die Fragen “Habe ich gerade einen Herzinfarkt oder verliere ich einfach nur den Verstand?” Beide Alternativen befeuern in jedem Fall die vegetative Ausnahmesituation.

Wenn Gefühle von solcher Intensität auftreten, haben sie immer eine Funktion und eine Botschaft. Angst ist die Art und Weise, wie unser Körper sagt: “Hey, ich erlebe zu viel Stress auf einmal." Das passiert auch den Stressresistentesten unter uns. Aber wenn dieses Gefühl, "immer in Alarmbereitschaft" zu sein, zu einem Hintergrundgeräusch wird, das nicht verschwindet, ist es an der Zeit, Hilfe zu suchen. Achtsamkeit und Meditation bei Ängsten sind ein wachsendes Feld, das helfen kann, mit den vielen Ebenen umzugehen, auf denen Ängste das Leben beeinflussen können. Dieser Leitfaden soll nicht als Diagnoseinstrument oder Behandlungsweg dienen - er ist einfach eine Sammlung von Forschungsergebnissen und Praktiken, die dabei helfen können, dein Leben in Ordnung zu bringen, präsenter im Hier und Jetzt zu sein, dir dessen bewusst zu sein, wo du bist und was du tust, und nicht übermäßig zu reagieren oder von dem, was um dich herum geschieht, überwältigt zu werden.

Wer es schafft, sich des gegenwärtigen Augenblicks bewusst zu werden, erhält Zugang zu Ressourcen, von denen er vielleicht nichts wusste, die aber die ganze Zeit bereits vorhanden waren - die Stille in Ihrem Inneren. Und ein Bewusstsein dafür, was du für dein Leben brauchst und was nicht, welches dich die ganze Zeit über begleitet. Vielleicht kannst du deine Situation nicht ändern, aber du kannst deinen Fokus und damit deine Reaktion auf deine Situation zu ändern.

Die meisten Gewohnheitsänderungen klappen nicht. warum?

Angst versteckt sich in unseren Gewohnheiten. Sie versteckt sich in unserem Körper, da wir lernen, uns durch unzählige verschiedene Verhaltensweisen von unseren Gefühlen abzukoppeln. Psychologen und Therapeuten haben zwar verschiedene Strategien entwickelt, um schädliche Gewohnheiten wie Angstzustände, übermäßiges Essen und Aufschieberitis zu überwinden, doch hängt die Wirksamkeit einer Therapie oft von der individuellen Veranlagung des Einzelnen ab. Glücklicherweise hat die moderne Wissenschaft herausgefunden, wie bestimmte uralte Praktiken die älteren und jüngeren Strukturen des Gehirns zusammenbringen können, um diese schädlichen Gewohnheiten zu besiegen.

Das, was da manchmal als unser altes Gehirn bezeichnet wird - d. h. die Ansammlung von Gehirnstrukturen, die sich in der Frühzeit der menschlichen Existenz entwickelt haben - ist darauf ausgelegt, uns beim Überleben zu helfen. Neben dem belohnungsbasierten Lernen (dem Prozess, der tägliche Gewohnheiten und sogar Süchte hervorbringt) hat es noch einen weiteren Trick in petto: Es nimmt das Gelernte auf und speichert es so schnell wie möglich im Muskelgedächtnis ab. Mit anderen Worten: Unser Gehirn ist so eingerichtet, dass es Gewohnheiten bildet, damit wir den Platz im Gehirn frei machen können, um Neues zu lernen.

Stell dir vor, du würdest jeden Morgen aufstehen und müsstest neu lernen, wie man aufsteht, sich anzieht, geht, isst, spricht - du wärst mittags völlig erschöpft. Im "Gewohnheitsmodus" handeln wir schnell, ohne nachzudenken, so als würde unser altes Gehirn unserem neuen Gehirn sagen: "Keine Sorge, ich habe das im Griff. Du musst hier keine Energie aufwenden und kannst an andere Dinge denken". Diese Arbeitsteilung ist einer der Gründe dafür, dass die neueren Teile unseres Gehirns, die sich vergleichsweise später entwickelt haben, wie z. B. der präfrontale Kortex, die Fähigkeit zum Denken und Vorausplanen entwickeln konnten.

Das ist auch der Grund, warum alte Gewohnheiten nur schwer zu ändern sind. Niemand möchte ein schönes Wochenende damit verbringen, einen überfüllten Kleiderschrank aufzuräumen, in dem noch Platz ist, um noch mehr Gerümpel hineinzustopfen. Erst wenn der Schrank vollgestopft ist, ist man gezwungen, ihn aufzuräumen. Genauso verhält es sich mit Ihrem Gehirn, das sich erst dann um das alte Zeug kümmert, wenn es ein kritisches Niveau erreicht hat. Die neueren Teile deines Gehirns würden ihre Zeit lieber mit "wichtigeren" Dingen verbringen, z. B. mit der Planung deines nächsten Urlaubs, der Beantwortung von E-Mails, dem Erlernen der neuesten Tricks, um in einer hektischen Welt ruhig zu bleiben, und der Erforschung der aktuellen Ernährungstrends.

Der präfrontale Kortex dient nicht nur als Ort des Denkens und Planens, sondern ist auch der Teil des Gehirns, auf den du zählst, wenn es darum geht, Triebe zu kontrollieren. Wenn du einen Donut siehst, versucht dein altes Gehirn impulsiv, sich darauf zu stürzen und denkt: Kalorien! Überleben! Der präfrontale Kortex hilft dir aber auch, deine Neujahrsvorsätze einzuhalten (und ironischerweise ist es dieselbe innere Stimme, die dich verurteilt, wenn du versagst).

Nun, eine Angstgewohnheit verschwindet nicht einfach auf magische Weise, wenn man erkennt, dass sie durch Wiederholung entsteht. Der erste Schritt besteht darin, unsere "Gewohnheitsschleifen" zu erkennen - Muster, die aus einem Auslöser, einem Verhalten und einem Ergebnis bestehen. Dann können wir Strategien anwenden, um eingefahrene schlechte Gewohnheiten zu ändern - sogar eine Angstgewohnheit.

4 Wege, um sich aus den Gewohnheitsschleifen zu befreien

1. Willenskraft

Wenn du dich deiner Willenskraft bedienen willst, sollte dein neues Gehirn deinem alten Gehirn sagen, dass es sich zurückziehen und einfach den Salat statt des Hamburgers bestellen soll, oder? Wenn du ängstlich bist, solltest du in der Lage sein, dir selbst zu sagen, dass du dich entspannen sollest, und dann entspannter sein. Willenskraft scheint zu funktionieren, aber es gibt zwei große Vorbehalte.

Erstens stellen neuere Forschungsergebnisse einige der früheren Vorstellungen über Willenskraft in Frage. Einige dieser Studien haben gezeigt, dass Willenskraft für eine glückliche Untergruppe genetisch veranlagt ist und wieder andere Studien haben argumentiert, dass Willenskraft selbst ein Mythos ist. Selbst Studien, die Willenskraft als real anerkennen, haben in der Regel festgestellt, dass Menschen, die mehr Selbstbeherrschung aufbringen, ihre Ziele nicht wirklich erfolgreicher erreichen - je mehr sie sich anstrengen, desto erschöpfter fühlst du dich. Sich zusammenzureißen, die Zähne zusammenzubeißen oder sich zu zwingen, "es einfach zu tun", mag zwar kurzfristig helfen (oder zumindest das Gefühl vermitteln, etwas zu tun), dürfte aber auf lange Sicht nicht funktionieren.

Zweitens: Während Willenskraft unter normalen Bedingungen gut funktioniert, übernimmt dein altes Gehirn die Kontrolle über dein neues Gehirn, wenn du gestresst bist ( E-Mail vom Chef, Streit mit dem Ehepartner, Erschöpfung, Hunger), und schaltet letzteres im Grunde ab, bis der Stress vorbei ist. Genau dann, wenn du deine Willenskraft brauchst - die, wie du dich erinnerst, im präfrontalen Kortex/im neuen Gehirn sitzt, ist sie nicht da, und dein altes Gehirn isst Törtchen, bis du dich besser fühlst und dein neues Gehirn wieder in Betrieb geht. Stellen dir den präfrontalen Kortex folgendermaßen vor: Da er der jüngste und evolutionär am wenigsten entwickelte Teil des Gehirns ist, ist er auch der Schwächste.

Wenn es uns leicht fiele, wenn die Angst ihr hässliches Haupt erhebt, uns einfach zu sagen, dass wir aufhören, ängstlich zu sein, wäre ich froh, wenn ich in einem anderen Beruf arbeiten könnte. So funktioniert unser Gehirn aber nicht, vor allem dann nicht, wenn Stress und Angst genau die Teile abschalten, die uns eigentlich durch eine schwierige Phase bringen sollen. Wenn du mir (oder den Daten) nicht glaubst, versuch mal Folgendes: Wenn du das nächste Mal ängstlich bist, sag dir einfach, dass du dich beruhigen sollst, und schau mal, was passiert.

2. Substitution

Wenn du ein Verlangen nach X hast, mache stattdessen Y. Wie die Willenskraft beruht auch die Substitution auf dem neuen Gehirn. Diese Strategie ist wissenschaftlich gut abgesichert und gehört in der Suchtpsychiatrie zu den gängigen Strategien. Wenn du zum Beispiel mit dem Rauchen aufhören willst, dich aber nach einer Zigarette sehnst, höre deinen Lieblingssong, anstatt dir eine anzuzünden. Bei einem Teil der Menschen funktioniert das, aber wie Untersuchungen zeigen, wird das Verlangen selbst dadurch nicht beseitigt. Die Gewohnheitsschleife bleibt intakt - das Verhalten wird einfach durch etwas Gesünderes ersetzt. Da die Gewohnheitsschleife bestehen bleibt, ist es auch wahrscheinlicher, dass du irgendwann in der Zukunft wieder in die alte Gewohnheit zurückfallen werden wirst

Die Substitution ist auch eine Strategie, die zur Bewältigung von Stress und Ängsten empfohlen wird. Wenn du zum Beispiel ängstlich bist, lenk dich ab, indem du bewusst andere positive Reize setzt.

3. Priming

Wenn du nicht in Versuchung geraten willst, Eiscreme zu essen, solltest du keine Kartons davon im Gefrierschrank aufbewahren. Auch bei dieser Strategie kommt das lästige neue Gehirn zum Einsatz. Mehrere Labors, die sich mit dem Priming einer Umgebung befasst haben, haben herausgefunden, dass Menschen mit guter Selbstkontrolle dazu neigen, ihr Leben so zu strukturieren, dass sie von vornherein keine Entscheidungen zur Selbstkontrolle treffen müssen. Wenn man sich angewöhnt, jeden Morgen Sport zu treiben oder im Supermarkt gesunde Lebensmittel zu kaufen, wird es zur Routine, sich fit zu halten und nahrhaft zu kochen, so dass die Wahrscheinlichkeit größer ist, dass es dabei bleibt. Hier gibt es zwei Vorbehalte: (1) Du musst dir das Gesunde tatsächlich zur Gewohnheit machen und (2) wenn es schwierig wird, neigen Menschen leider dazu, in das alte Gewohnheitsmuster zurückzufallen und dort zu bleiben, weil ihr Gehirn ihre alten Gewohnheiten viel tiefer eingegraben hat als ihre neuen.

Wie funktioniert das Priming deiner Umgebung bei Ängsten?

Die Testgruppe wurde instruiert, eine „Siegerpose“ für zwei Minuten einzunehmen. Eine solche Pose ist zum Beispiel, wenn ein Sportler nach dem Sieg die Arme in die Luft reißt oder wenn eine Person dominant die Hände auf die Hüfte stützt. Zum Vergleich wurde das Dopamin- und Stresshormon-Level vor und nach den zwei Minuten gemessen. Das Ergebnis: Die Teilnehmer zeigten nach zwei Minuten einen signifikanten Anstieg von Dopamin und eine Reduktion der Stresshormone im Blut.

Genau den gleichen Effekt erreicht übrigens ein Sift, den du dir quer bis hinten in die Mundwinkel schiebst um ein Fake-Lächeln zu erzeugen. Du kannst natürlich auch ohne den Stift einfach ein übertriebenes Lächeln erzeugen. Durch die Stimulation der Muskelregionen setzt das Gehirn Dopamin und Oxytocin frei, was bei regelmäßiger Anwendung (Im Experiment in von mehreren 2-3 minütigen Anwendungen täglich die Rede.) zu spürbarer Entspannung führen kann.

4. Achtsamkeit

Jon Kabat-Zinn, der das Programm zur achtsamkeitsbasierten Stressreduzierung (MBSR) entwickelt hat, definiert Achtsamkeit als "das Gewahrsein, das durch gezielte Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Moment entsteht, ohne zu werten". Im Grunde genommen verweist Kabat-Zinn auf zwei Aspekte der Erfahrung: Achtsamkeit und Neugierde.

Was bedeutet das? Unser altes Gehirn reagiert auf positive und negative Verstärkung, um zu entscheiden, was zu tun ist, und ist dann sehr gut darin, dieses Verhalten in Gewohnheiten zu verwandeln. Wenn man sich nicht bewusst ist, dass man etwas gewohnheitsmäßig tut, wird man es auch weiterhin gewohnheitsmäßig tun. Kabat-Zinn beschreibt dies mit den Worten, dass man auf Autopilot fährt. Wenn man dieselbe Straße schon tausendmal gefahren ist, wird die Fahrt zur Gewohnheit. Man neigt dazu, sich abzuschalten und an andere Dinge zu denken, während man fährt - manchmal so sehr, dass man sich nicht einmal mehr daran erinnert, wie man von der Arbeit nach Hause gekommen ist. Ist das Magie? Nein, es ist Gewohnheit.

Wenn du durch Achtsamkeit Bewusstsein schaffst, kannst du herausfinden, was in deinem alten Gehirn vor sich geht. Du kannst lernen, deine Gewohnheitsschleifen zu erkennen, während sie ablaufen, anstatt am Ende der Schleife "aufzuwachen", wenn du fast einen Unfall gebaut hast.

Sobald du dir deiner Gewohnheitsschleifen bewusst bist - wenn du auf Autopilot bist -, kannst du neugierig wahrnehmen, was da passiert. Warum tue ich das? Was hat dieses Verhalten ausgelöst? Welche Belohnung habe ich wirklich davon? Möchte ich es weiterhin tun?

Neugier ist eine wichtige Einstellung, die, wenn sie mit Bewusstsein gepaart ist, dabei hilft, Gewohnheiten zu ändern. Neugierde ist der Schlüssel zu Offenheit und Aufgeschlossenheit für Veränderungen. Carol Dweck, Professorin und Forscherin an der Stanford University, hat darüber gesprochen, als sie eine fixe und eine wachsende Denkweise gegenüberstellte. Wenn man in alten Gewohnheitsschleifen feststeckt (einschließlich der Selbstverurteilung und der Angst), ist man nicht offen für Wachstum. Wenn man sich aus dem Gewohnheitsmodus heraushält, kann das neue Gehirn das tun, was es am besten kann: rationale und logische Entscheidungen treffen.

Die wissenschaftliche Erforschung der Achtsamkeit steckt zwar noch in den Kinderschuhen, aber erste Studien haben ergeben, dass Achtsamkeit speziell auf die Schlüsselstellen des belohnungsbasierten Lernens abzielt. So fand ein Labor beispielsweise heraus, dass Achtsamkeitstraining gegen Angstzustände hilft. Es wurden bemerkenswerte Veränderungen in gewohnheitsmäßigen Verhaltensweisen festgestellt, wenn Menschen lernen, diesen Gewohnheitsschleifenprozess zu verstehen und Achtsamkeitstechniken anzuwenden.

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